Am Sonntag ist Europawahl – eine schlechte Wahlbeteiligung wird schon jetzt prognostiziert. Viele denken, was habe ich mit dem Europaparlament am Hut: “Die tun sowieso, was sie wollen, gerade die in Brüssel” (Stichwort Glühbirnenverbot). Das mag auch stimmen, in der Tat weist das Europäische Parlament (das eigentlich gar kein solches ist) erhebliche Demokratiedefizite auf, und das wird sich mit dem in fast allen Mitgliedsstaaten bereits ratifizierten Vertrag von Lissabon noch weiter verschlimmern. Mehr zu diesem heiklen Thema lesen Sie übrigens in der nächsten zeitgeist-Printausgabe, soviel sei hier schon verraten.
Eine Bekannte aus den neuen Bundesländern meinte neulich, und das bezog sie auf alle anstehenden Wahlen in diesem Jahr, sie fühle sich, wenn sie auf die etablierten Parteien blicke, an die ehemalige DDR erinnert. Da sei es auch so gewesen: Das Angebot war gleichgeschaltet. Was man auch wählte – es lief auf dasselbe hinaus …
Überdies kennt man die Europawahlkandidaten kaum, selbst die der CDUCSUSPDFDPGRÜNENLINKSPARTEI nicht, was das Nachrichtenmagazin ZAPP in seiner letzten Sendung herausstellte. Wundert mich nicht wirklich, schließlich hieß es doch früher hinter vorgehaltener Hand stets, unliebsame Politiker hätte man nach Brüssel “befördert” (hoffen wir mal, dass diese vermeintlich “entsorgten Karrieristen” nun nicht unser Schicksal besiegeln). Martin Schulz, Spitzenkandidat der SPD und Fraktionsvorsitzender im Europaparlament, sieht das ganz anders. In der SPIEGEL-Nummer 22 vom 25.05.09 behauptet er, dass ihn laut Umfragen ein Viertel der Deutschen kenne. Wer’s glaubt – eher stellt sich doch die Frage, wer da wo befragt wurde …
Gleichwohl ist es nicht egal, ob wir bzw. was wir wählen, behaupte ich. Na gut, was also tun am Sonntag? Welche Möglichkeiten hat der Stimmberechtigte überhaupt und welche davon ergeben Sinn?
Variante 1: Eine etablierte Partei wählen
Wenn man möchte, dass alles im alten Trott weiterläuft, ist das der richtige Weg. Systemreformen werden dabei nicht zu erwarten sein, denn die Probleme dieser Welt können nicht mit derselben Denkweise gelöst werden, durch welche sie erzeugt wurden (frei nach Albert Einstein). Gleichfalls darf man sich bei Variante 1 keine Erwartungen hinsichtlich der Wahlversprechen machen oder später gar klagen, wenn sie wieder nicht eingehalten werden (was fast schon mathematisch berechenbar ist). In punkto “Wahlkampf” werden ja immer dreistere Schwerter gezückt. So scheint beim Wählerfang inzwischen fast alles erlaubt: In Italien können Stimmen käuflich erworben werden, berichtet der Publizist Udo Ulfkotte beim KOPP-Verlag. Ganz so korrupt werden wir hierzulande hoffentlich (noch) nicht sein …?
Variante 2: Eine kleine(re) Partei wählen
Derer treten zur Europawahl ja so einige an. Mit von der Partie sind – neben den “üblichen Verdächtigen” der extremen Rechten/Linken, der christlichen Fundamentalisten oder der Spezialinteressengemeinschaften – diesmal auch Parteien, die mehr als nur einen flüchtigen Blick wert sind (Eine erste Auswahl hatte ich in einem früheren Blogeintrag vorgestellt; zu der Zeit stand allerdings noch nicht fest, wer alles zur Europawahl zugelassen wird.) Auf dem Wahlzettel stehen nun z. B. gleich zwei Parteien, die sich für eine direkte Demokratie engagieren (“Volkabstimmung” und die Wählervereinigung “Für Volksentscheide”), dann eine Partei, die sich schwerpunktmäßig für die Demokratisierung der EU einsetzt (“Newropeans”), außerdem “die Violetten”, die u. a. das Grundeinkommen befürworten und schließlich die bereits in 18 Ländern aktive und damit wegen der supranationalen Stimmenbündelung für die Europawahl besonders relevante “Piratenpartei”, die zumal die wohl dringlichsten Themen, die EU betreffend, auf der Agenda hat: Schutz der Privatsphäre, Erhalt der Pressefreiheit, staatliche Transparenz statt Korruption. Denn Orwells “Big Brother” wird uns im Kostüm der Europäischen Union sicher noch weitaus mehr Freiheitseinschränkungen bescheren (siehe auch meinen Artikel “Vom unbescholtenen Bürger zum potenziellen Terroristen …”). Der Betreiber der Webseite www.buergerrechte-waehlen.de hat sich die Mühe gemacht, die Programme der wichtigsten Parteien dahingehend zu durchleuchten. Dabei wird besonders transparent, welche Parteien an welcher Stelle die Grundfeste der Demokratie aushöhlen und die man deshalb guten Gewissens nicht mehr wählen darf.
Morgen, am Vortag der Wahl, wird vor diesem Hintergrund in Mainz die Protestveranstaltung “Freiheit statt Angst” ausgerichtet werden, die im Übrigen, neben rund 30 anderen Bürgerinitiativen, auch von der Piratenpartei mitgetragen wird. In anderen Städten hatten sich jeweils mehrere Zehntausend Menschen für die Kundgebung interessiert. Es scheint sich also um eine ganze Bewegung, vornehmlich auch jüngerer Mitbürger zu handeln, für welche die Piratenpartei stellvertretend steht. Man sollte sich dabei nicht von dem rebellisch oder anarchistisch wirkenden Parteinamen bzw. Ankündigungsplakat abschrecken lassen.
Wer noch unsicher ist, welche Partei die eigenen Interessen am besten vertritt, kann auch den “Wahl-O-Maten” der Bundeszentrale für politische Bildung zurate ziehen (siehe Link am Ende meines Artikels “Rettet die Wahlen!”). Aber Achtung: Bei der Anzeige der Resultate können nur 8 von insgesamt 32 Parteien verglichen werden (vermutlich sollte vermieden werden, dass die Kleinparteien in der Ergebnisliste zuviel Raum erhalten). Mein Tipp: Da durchaus einmal mutig sein und verschiedene Parteien, auch weniger oder gänzlich unbekannte, für die Gegenüberstellung anklicken. Sie werden staunen, welche Reihenfolge ausgeworfen wird!
Womöglich denken Sie jetzt: Eine Kleinpartei wählen? Das bringe doch nichts, die Stimme sei wegen der 5-%-Hürde (die bei Europawahlen eigentlich Unsinn ist – in anderen Ländern existiert eine derartige Sperrklausel vernünftigerweise nicht) eh vergeudet. Da stelle ich dagegen: Würde jeder so denken, ändert sich nie etwas, hat keine neue Partei je mehr eine Chance. Und überhaupt: Vergeudet an wen? Eine Stimme, die sinnvoll einer Kleinpartei gegeben wird, entzieht man einer etablierten Partei. Sie geht außerdem in die Gesamtstimmenzählung ein (was bei Variante 3 nicht der Fall ist). Ein sichtbarer Protest also, der in der Summe nicht nur die Medien, sondern auch die großen Parteien aufhorchen lassen wird (so geschehen etwa durch die Gründung der Piratenpartei in Schweden, die andere Parteien zur Änderung ihrer Standpunkte in Bezug auf das Urheberrecht veranlasste, aus Angst, noch mehr Wählerstimmen zu verlieren).
Variante 3: Absichtlich ungültig wählen
Ein anderer Ausdruck von Protest: ein “großes Kreuz” machen, sprich den gesamten Wahlzettel durchstreichen getreu dem Motto: “Nichts Passendes dabei, bitte ein besseres Angebot unterbreiten.” Zwar kreativ im Ansatz, vom Nutzen her jedoch ineffektiv. Denn mehr als ein einmaliges Presseecho wird dadurch im besten Fall nicht abfallen. Zudem würden die großen Parteien davon profitieren (und die nächsten Jahre unverändert weiterregieren), weil ungültige Stimmen – und dazu würden die bewusst anders platzierten Kreuze gerechnet – in der Statistik nicht abgebildet werden. Prozentual gesehen werden nur die Gültigen als hundert gesetzt. Man geht einfach von einer bestimmten Anzahl ungültiger Stimmen aus, und die müsste sich schon dramatisch erhöhen, dass es für die Medien überhaupt zu einem Thema würde …
Variante 4: Auf Direktmandate fokussieren
Dieses Konzept wurde vor einigen Jahren vor allem durch die Webseite www.williweise.de populär. Die Idee, sich mit eigenen, parteilosen Kandidaten selbstbestimmt ins Parlament wählen zu lassen, ist im Grunde keine schlechte (für die Sozialwahlen 2011 gibt es einen ähnlichen Vorschlag: www.sozialwahl2011.net). Für die Europawahl hingegen ist diese Strategie hinfällig, da lediglich eine einzige Stimme für eine Partei abgegeben werden kann.
Variante 5: Gar nicht Wählen gehen
Und damit kommen wir zurück zum Eingangszitat des Politik-, nein eigentlich Parteiverdrossenen: “Die Politiker tun eh, was sie wollen.” Und das werden sie in Zukunft zweifelsfrei noch dreister tun, wenn nichts Passables unternommen wird. Also eine Partei der Nichtwähler gründen? Nein, den Ansatz gab es schon – er stieß auf keine Resonanz …
Gabor Steingart, Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL und Autor des Titels “Die Machtfrage – Ansichten eines Nichtwählers”, rät auf seiner Homepage www.demokratie-erneuern.de: “Wer die Öffnung des heutigen Parteienstaats vorantreiben will, darf ihn nicht bestätigen. Wer wählt, stimmt zu.” Steingart votiert deshalb für Wahlenthaltung und hofft so auf “ein neues Wahlrecht mit mehr Einfluss für die Bürger, Direktwahl des Bundespräsidenten, Weiterentwicklung des Grundgesetzes zu einer demokratischen Verfassung, Einführung der Direkten Demokratie durch Volksabstimmung auf Bundesebene.” Ich stelle ihm hier die Frage: Wie soll ein Volk sich wieder selbst ermächtigen, wenn es das einzige und letzte demokratische Mitbestimmungsrecht, nämlich das der Wahl, auch noch verfallen lässt? Für mich könnte das vielmehr als Signal gewertet werden, die Bürger wünschten KEINE plebiszitäre Demokratie! Auf dass uns das Wahlrecht dann auch noch genommen würde …
“Wer in einer Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur auf”, wusste schon Goethe.
Darum rate ich: Am Sonntag wählen gehen!
— Anzeigen —
Hallo Thomas,
vielen Dank für den Beitrag! Ich hoffe, dass noch viele Menschen ausser mir Deine Zeilen lesen und in heute zur Wahl gehen!
Beste Grüsse
Peter
Das sehe ich anders.
Es mag sein, dass die Polit-clowns eine geringe Wahlbeteiligung sich wieder mit blumigen Worten schön reden.
Nur, ausschließlich durch die Nichtbeteiligung an dieser (zweifelhaft-legalen) Wahl kann man “denen” die Legitimation entziehen.
Bei einer Wahlbeteiligung von <20% gibt es einfach keine blumigen Worte mehr, die das egalisieren könnten.
Und, jede Beteiligung – egal wie – ist eine Art von Zustimmung.
Danke für die Arbeit, die du dir hier gemacht hast. Hat mir geholfen. Ich hatte mich etwas in der “prinzipiellen Strategiefrage” verfangen und fühlte mich nach dem Lesen wieder “geradeaus gerichtet”.
Geneigtem Leser wünsche ich den Mut, noch mehr zu erforschen, was es mit dem “die da” auf sich hat.
Solange wir geistig in DIESEM Boot sitzen, sind wir Teil des Problems und nicht der Lösung.
Herzliche Grüße,
Hannah