Zeit für den Geist
Thomas Röttcher - Curriculum Vitae

Bis vor kurzem noch dachte man beim Stichwort “Internetzensur” nur an China. Nun wagt auch der Westen einen Vorstoß, und zwar einen deutlichen, mit Sarkozy als Speerspitze: Frankreichs Premier möchte “Datensaugern” am liebsten gleich die Netzverbindung kappen – sehr zur Freude der Musikindustrie. Das französische Parlament allerdings erteilte dem Vorpreschenden erst einmal eine Abfuhr.

Auch hierzulande will “Big Brother” jetzt mehr als nur mitreden. Am vergangenen Freitag haben fünf große Internetprovider (Alice/Hansenet, Deutsche Telekom, Kabel Deutschland, Telefonica/O2 und Vodafone/Arcor) auf Veranlassung von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) eine Vereinbarung unterschrieben, dass sie auf Basis schwarzer Listen des Bundeskriminalamtes demnächst Seitenzugriffe auf kinderpornografische Inhalte unterbinden werden. Für den verirrten Surfer werde dann ein rotes Stoppschild oder eine vergleichbare Warnung zu sehen sein.

Christian Bahls, Gründer des Vereins “Missbrauchsopfer gegen Internetsperren” und ehemals Opfer sexueller Übergriffe, zeigt sich von der übereifrigen Politikerin enttäuscht. “Ich fühle mich in der Debatte für ein politisches Ziel missbraucht”, erklärt er gegenüber Gulli.com. Wird womöglich selbst mit solch sensibler Angelegenheit um Wählergunst gebuhlt? Für das renommierte Untergrundportal sieht es sogar so aus, dass – unter Instrumentalisierung eines gesellschaftlichen Tabuthemas – eine Internetzensur durchgesetzt werden soll. Mit subtilen Methoden, scheint es. Die Computerfachzeitschrift c’t hat nachgewiesen, dass sowohl von der Leyen als auch das BKA mit falschen oder gezielt übertriebenen Zahlen hinsichtlich des Kinderpornoproblems operieren.

Der “Chaos Computer Club” hält das Ansinnen, auf der Nutzerseite zu filtern, für gänzlich unsinnig. Vielmehr sollte doch bei den Anbietern angesetzt werden, wo die illegalen Inhalte liegen. Doch da wird erstaunlich wenig unternommen.

Selbst technisch gesehen läuft von der Leyens beabsichtigte “Filtration” ins Leere, denn sie ist mit relativ geringem Aufwand zu umgehen (Die eigentlichen Probleme werden damit auch nicht gelöst, nur aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannt.) Um dies zu demonstrieren und aus grundsätzlichem Protest gegen Internetsperren, entschloss sich der “Foebud e. V.”, seit 1987 im Einsatz für Bürgerrechte und Datenschutz, zu einer praktischen Gegenmaßnahme. Seit gestern betreibt der Verein einen eigenen öffentlichen und zensurfreien DNS-Server. “Wer sich diesen als eigenen DNS-Server anstelle des vom Provider gelieferten Servers einträgt, kann damit die Internetsperren einfach umgehen. Die IP-Adresse lautet: 85.214.73.63”, heißt es in einer Pressemitteilung. Eine ausführliche Anleitung fände sich in Kürze auf der FoeBuD-Webseite. Der Haken an der Sache: Bei einer Datenumleitung leidet die Geschwindigkeit, künftig wohl der Preis der Anonymität.

Dazu nochmals der FoeBuD, Sprecherin Rena Tangens: “Die Existenz einer nicht öffentlichen Zensurliste ist unvereinbar mit dem Gebot der Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit.” Auch wenn zunächst nur kinderpornographische Inhalte von der Sperre betroffen sein sollten, gäb es doch keine Garantie dafür, dass man die Zensur nicht ausweite, z. B. auf Webseiten politischer Organisationen, Gewerkschaften oder kritischer Presse. Mit den Möglichkeiten wüchsen bekanntlich auch die Begehrlichkeiten.

Und die Zeichen Richtung Einschränkung der Privatsphäre mehren sich, nach Bundestrojaner, BKA-Gesetz und biometrischer Erfassung. Alles zu unserem Besten, alles zu unserer Sicherheit, wird suggeriert. Oder ist es die unkalkulierbare Eigendynamik des Internets, die Machthabern ein Dorn im Auge ist? Unser liebgewonnener Zugang zur (virtuellen) Welt ist zum Störenfried geworden, den einige am liebsten ganz abschaffen wöllten.

Vom Militär einst entwickelt als dezentralisiertes und somit “unzerstörbares” Kommunikationsnetzwerk (ein kurzweiliges Video dazu findet sich am Ende des Artikels), lehrt es so manchen jetzt wohl das Fürchten: Denn das Internet ermöglicht nicht nur informelle Transparenz, es hilft auch Aktivisten, sich zu organisieren und zu wehren.

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Animationsfilm zur Entstehung des Internets (in englischer Sprache):

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4 Kommentare zu „Gegen Internetsperren: schlechte Zensuren für Zensoren“

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